die Tür

Zeit der offenen Tür.

Im Sommer steht die Welt buchstäblich offener. Ringsum wird mit dem Ferienbeginn in einer Woche zum Sprung in die weite Welt angesetzt. Freundinnen und Freunde berichten von ihren Plänen. Gültige Papiere und Easyjet öffnen Türe ins Weite. Die Leichtigkeit unseres Ausfliegens steht dabei in keinem Verhätnis zur Schwierigkeit des Einreisens von anderswo (letzer Blog).

Heute, wenn wir zuhause sind, steht unsere Tür in den Garten den ganzen Tag offen. Wir gehen barfuss rein und raus. Manchmal finden selbst Schnecken und Eidechsen ins Wohnzimmer. Mücken sowieso.

Ich trage immer noch die Verse aus dem Römerbrief (5, 1-5; letzer Blog) in mir. Darin verborgen das Bild des Zugangs zum Raum der Charis (,Gnade'), der für Paulus mit Christus sperrangelweit offen steht (V.2). Das griechische Wort, das Paulus dort für den Zugang braucht (προσαγωγὴ), ist dasselbe, das in den Schriften des Alten Testaments für die Tür ins innere Heiligtum des Tempels verwendet wird. Nur wenigen Auserwählten war es vergönnt, hindurch zu gehen. Und das nur nach aufwendigen Ritualen äusserer und innerer Reinigung. Nun sieht der Apostel sie für sich uneingeschränkt offen - und mit ihm für alle Menschen. (Das Bild meint damit dasselbe wie dasjenige in der Passionsgeschichte des Markus, wenn der Vorhang im Tempel von oben bis unten zerreisst [15, 38]).

Im Johannesevangelium sagt Christus von sich: Ich bin die Tür (10,9). Ich habe das Bild schon so oft gehört und gebraucht, dass es sich abgenutzt hat.

Bei meinem Lesen stosse ich heute auf folgende Geschichte:

In Nigeria bewohnten meine Eltern, Geschwister und ich eine Dreizimmerwohnung im obersten Stock eines Mietshauses in einem etwas besseren Teil von Lagos. Das war so um 1981. Mein Vater gehörte dem mittleren Management eines multinationalen Kakaoverarbeitungsunternehmens an. Er musste beruflich viel reisen. Vor allem nach Brasilien.
Wir besassen kein Haus, wir besassen nicht einmal Land, und doch brachte meine Vater eines Tages von seiner jüngsten Brasilienreise eine Tür mit: eine wunderschön lasierte Teakholztür, tief honiggelb, leuchtend, prachtvoll.

Der Erwerb dieser Tür erschien rätselhaft und etwas absurd. Mein Vater hatte dafür sein ganzes Geld ausgegeben. Er hatte ausserdem massive Türgriffe, Schlossblenden und einen pompösen Löwentürklopfer mit dunkler Patina erstanden. Diese Tür und die schweren Messingbeschläge hätten einer Kathedrale alle Ehre gemacht, dazu kamen Schlösser, Schlüssel und Scharniere, allesamt gekauft von einem, der keinen Grund und Boden besass.Wir bewahrten die Tür in einer Kammer auf und dort setzte sie Staub an. 

Diese närrische, von meiner Mutter rückhaltlos unterstützte Fixierung meines Vaters auf eine reale Tür für ein ungebautes Haus auf einem imaginären Stück Land habe ich nie mehr vergessen, nicht nur der Zuversicht wegen, sondern auch, weil sich darin ein instintives Gespür für die symbolische Kraft von Pforten zeigt. Eine Tür ist Übergang, Zone all dessen, was bald sein wird, aber noch nicht ist.

....

Nach langen Jahren kauften meine Eltern endlich ein Stück Land. Es wurden Fundamente gegossen, Wände hochgezogen, Tür- und Fensterstürze gesetzt, ein Dach erstellt, eine Veranda gezimmert - und schliesslich wurde, als nähme man von einem samtenen Kissen ein Kronjuwel, die prächtige brasilianische Tür vorn in den Rahmen gehängt. Der Löwentürklopfer aus Messing wurde angebracht. Weil es 1981 eine Tür gegeben hatte, gab es 1989 eine Haus. Als ich 1992 mit siebzehn Jahren auszog und meine amerikanische Reise antrat, geschah es buchstäblich durch diese Tür. Ich trat durch die prächtige, gehegte und gepflegte brasilianische Tür und leitete so eine neue Lebensphase ein.
Was kann die Symbolkraft nicht alles bewegen.  

(Teju Cole, Black paper, Berlin 2023, S. 267f und 272f; gekürzt)

Die Geschichte beglückt mich. Sie hat recht. Ich habe irgendwo in meiner Kammer eine Tür gelagert, die still verstaubte und ich manchmal vergass. Nun steht sie mit einem Mal wieder kraftvoll vor Augen. Paulus' 'Zugang' und Christus' ,Ich bin die Tür' lässt mich in neue Räume hoffen. Ein Haus ungeahnter Zukunft.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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