das echte Schneewittchen

Im Hochsommer kommt eine junge Frau an die Tore von Disneyland Paris. Sie trägt ein tailliertes Kleid mit einem Rock aus goldgelber Seide, einem nachtblauen Mieder, gestreiften Puffärmeln und einem apfelroten Umhang, darüber eine Art Halskrause und schwarze, mit einer Schleife zusammengebundene Locken. Die Leute halten sie für das Schneewittchen und bitten sie, Autogramme zu geben und für Fotos zu posieren.

Doch nicht lange. Ein Sicherheitsbeamter stürmt herbei und zieht die Schneewittchen-Darstellerin zur Seite. ,Es ist nicht möglich, in dieser Kleidung hereinzukommen', sagt er. ,Wirklich?' sagt sie. ,Sie müssen sich umziehen und etwas anderes anziehen.' Das Schneewittchen ist zurückhaltend, aber gibt nicht so leicht auf. ,Das ist Disneyland, oder?'

Dem Wachmann fällt es schwer, genau zu sagen, gegen welche Bestimmung des Vergnügungsparkordnung die Frau verstösst. Er handelt offensichtlich auf Anweisung seiner Vorgesetzten. ,Wir sind besorgt, dass Sie etwas Schlimmes tun könnten,' sagt er. ,Die Leute könnten denken, dass Sie die echte Figur sind, verstehen Sie?'

Er spricht in ein Walkie-Talkie. Wo liegt die unsichtbare Grenze zwischen einer unschuldigen Verkleidung und einer öffentlichen Bedrohung? Warum sind Micky-Maus-Ohren erlaubt und ein Schneewittchen-Kleid nicht? Ein kleines Mädchen in fast gleicher Verkleidung steht in der Nähe. Der Wachmann beachtet sie nicht.

Ein weiterer Wachmann kommt als Verstärkung. Das Problem ist offenbar, dass das Schneewittchen-Double dem ,echten' Schneewittchen zu sehr ähnelt.
,Ich dachte, das echte Schneewittchen ist eine Märchenfigur', antwortet das Schneewittchen-Double.

Eine Menschenmenge versammelt sich. Unbeeindruckt von dem Aufsehen, das sie erregt, posiert das Schneewittchen weiter für Fotos und gibt Autogramme. Eine Vorgesetzte trifft ein. Sie erklärt mit Nachdruck, dass Verkleidungen auf dem Gelände nicht erlaubt sind und dass das Schneewittchen-Double sich umziehen muss, wenn sie hinein will.

,Sie ist kein Schneewittchen', murmelt jemand in der Menge. ,Gehen wir!'

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Das Schneewittchen ist die finnische Aktionskünstlerin Pilvi Takala. Sie hat sich darauf spezialisiert, die unsichtbaren Grenzen, die unsere Gesellschaft durchziehen, zu entblössen. In einem Begleittext schreibt sie: ,Der Disney-Slogan Dreams Come True steht natürlich für Träume, die ausschließlich von Disney produziert werden. Alles, was auch nur ein bisschen ausser Kontrolle gerät, ruft sofort die Angst hervor, dass diese realen, möglicherweise dunklen und verkehrten Träume wahr werden könnten.' Wie ein Kirchenbesucher soll auch der Disney-Besucher glauben, aber nur innerhalb starrer, codierter Parameter. ,Mich interessiert: Was sind Normen: wie werden sie aufrechterhalten oder aufgehoben, verändert und ausgehandelt?'

Es gibt mir zu denken, dass die Künstlerin eine Parallele zur Kirche zieht. Der Disneykonzern möchte das Monopol der Vermarktung ihrer Figuren, auch wenn er dafür unserem eigenen Estrich geplündert hat. Freie Träume werden zu einem kontrollierten Glaubensmarkt. In ihrem Vergnügungspark setzt sie das kompromisslos durch. Wie Apple das Urheberrecht seines Apfels. Spätestens wenn man erwachsen wird, ist Schluss mit Schneewittchenspiel. Man ist Konsument.

Ich weiss, dass die Kirchenschwelle eine für viele Menschen schier unüberwindbare Grenze bedeutet. Das hat einerseits gewiss mit einem unsichtbaren Code zu tun, der sich ihnen oft schon in der Kindheit eingeprägt hat und der sich nicht mehr mit ihrem gegenwärtigen deckt. Man weiss, wie man sich da verhalten sollte, und es stimmt so nicht mehr für sie.
Doch es hat andererseits bestimmt auch damit zu tun, wie die Kirche sich heute noch gibt. Welche unbewussten (und bewussten: Kleidung, Kinder, soziale Anpassung...) Grenzen werden gezogen? Welche Kontrollverlustängste leiten sie unausgesprochen?
Wenn diese bewusst würden, könnten sie bearbeitet werden.

Fulbert Steffensky hat die Kirche mal Das Haus, das die Träume verwaltet (Buchtitel, 2014) genannt. Ein schönes Bild, auch wenn das verwaltet etwas gar bürokratisch klingt. Anders als in der Traumfabrik müsste dann das Träumen darin jedoch nicht kontrolliert, sondern geweckt werden. Und meine eigenen Träume lehren mir, dass das dann schön wild, frei und frech und sehr persönlich werden kann. 

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

(Quelle: The New Yorker, June 19, 2023)

 

 

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