ich wäre gerne auch weise

Heute in den Nachrichten: Der UNO-Hochkommissar Volker Türk warnt in der Eröffnung der Herbstsession des Menschenrechtsrates in Genf vor einer ,Zukunft, die wir uns nicht wünschen'.  Und fasst sie so zusammen: ,Die Faust ist zurück'.

Wenn die Illusionen zerstäuben wie Seifenblasen und die Realität durch alle Wände von Gedanken und Gefühlen drückt, schlägt die Stunde der Weisheit. Jedenfalls ist das mein Eindruck, nachdem ich mich im Zusammenhang von Erwachsenenbildung und Gottesdienstvorbereitung letzthin einige Zeit damit beschäftigen durfte. 

In der Bibel werden nicht wenige Seiten unter Weisheit zusammengefasst (Sprüche, Hiob, Kohelet; Jospeh-Geschichte, einige Psalmen, Texte in den Briefen des Neuen Testaments...). Im kirchlichen Leben und meinem Beruf nehmen sie dagegen wenig Raum ein. Vielleicht, weil sie so erstaunlich rational und unreligiös sind? Dabei enthält ihre Lebenskunst gerade für Zeiten, die auf das Gemüt schlagen und sich manche fromme Wünsche zerschlagen, einen hilfreichen Schatz an Trotz und Trost. Ich spüre, wie es mir gut tut, in der aktuellen Stimmungslage darauf zurück zu greifen.

Weisheit (altgriechisch σοφία sophía, lateinisch sapientia) bezeichnet vorrangig ein tiefgehendes Verständnis von Zusammenhängen in Natur, Leben und Gesellschaft
sowie die Fähigkeit, bei Problemen und Herausforderungen die jeweils schlüssigste und sinnvollste Handlungsweise zu identifizieren. (Wikipedia)

Die Definition im Lexikon zielt bereits auf zwei Stärken der Weisheit:
- Das nüchterne Wahrnehmen und Verstehen von Wirklichkeitszusammenhängen.
- Und ein resilientes Ziehen von Schlussfolgerungen für meine eigenes Leben.
Weisheit lässt mich damit weder den Kopf in den Himmel (oder in das Private: Hauptsache mir geht's gut!) noch in den Boden stecken (Es hat ja alles keinen Sinn!).
Weder Weltflucht noch Depression sind Lebensoptionen. 

Darin eingeschlossen ist die Erkenntnis, dass ich meine Stimmungen - meine Hoffnungen und Enttäuschungen - nicht auf Momentaufnahmen abstelle, sondern den weiten Blick auf grösseres Ganzes bewahre oder neu gewinne: Ich bin ein kleiner Tropfen im grossen Strom der Zeit. So verwundert es auch nicht, dass das poetische ,Alles hat seine Zeit' (Kohelet 3) zu den bekanntesten Weisheitstexten der Bibel gehört.

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Berthold Brecht verliess seine Heimat am Tag nach dem Reichtagsbrand 1933. In diesem braunen Deutschland hatte er keine Heimat mehr. Auf der kleinen Insel Fünen in Dänemark fand er für die nächsten fünf Jahre ein neues Zauhause - bevor die Geschichte ihn weitertrieb. Bei meiner Beschäftigung mit der Weisheit stosse ich auf sein Gedicht ,An die Nachgeborenen'. Es entstand im Haus mit Strohdach auf Fünen. Die Sehnsucht nach einem weisen Umgang mit seiner Gegenwart scheint auch ihn umgetrieben zu haben. In der Bibel scheint er dafür Sprache gefunden zu haben. Seine Zeilen sind voller Anklänge auf die Weisheit der Schrift. Ob auch er darin Trost und Trotz gefunden hat? Das Ende klingt resigniert. Doch ist es nicht schon hilfreich, für das schwer Sagbare Sprache zu finden?

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! 

Berthold Brecht, An die Nachgeborenen, um 1938, Auszug

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Wenn man älter wird, öffnet sich noch eine weitere Möglichkeit der Flucht aus der Wirklichkeit: Die Vergangenheit. Zur Gnade der Erinnerung gehört auch das Vergessen. Und das Geschenk des Filters namens 'Nostalgie'. Besonders geblieben ist mir deshalb ein weiterer Vers aus dem Buch Kohelet:

Frag auch nicht: »Warum ist früher alles besser gewesen als heute?«
Denn deine Frage zeugt nicht von Weisheit. Kohelet 7, 10 


Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

Feurige Kohlen aufs Haupt - Predigt zur Weisheit der Sprüche (Kapitel 25) vom 10.9.2023 hier.



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