Lob und Widerstand
Die Bilder kommen einem vertraut vor*. Nur sind sie heute in Farbe. Die Grossmächte teilen sich die Welt auf. Die Machtzyniker - alles Männer - sitzen am Tisch, drücken die Brust raus und setzen ihr Pokerface auf - und gehen dann unter verschlossenen Türen ans Eingemachte anderer Länder. Damals Polen. Heute Ukraine. Oder noch mehr?
Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass die Zunkunftssorgen gross sind, je jünger desto grösser. Gleichzeitig ist jedoch auch die Lebenszufriedenheit gross. Über 90% sind mit dem gegenwärtigenm Leben zufrieden bis sehr zufrieden. (Auch hier sind die Werte bei den Jüngeren etwas tiefer). Die Experten rätseln, wie die beiden Werte zusammenpassen.
Schuld frisst die Vergangenheit auf. Sorgen die Zukunft. Also igelt man sich in der Gegenwart ein und geniesst noch was und solange man hat. Wer ohnehin nicht mehr viel Zukunft hat, da alt, kann die Sorgen besser von sich weisen - was in einer alternden Gesellschaft auch manch demokratische Entscheidung erklärt.
Als im Jahr 2001 in New York die Flugzeuge in die Zwillingstürme flogen und den Mythos in Trümmer legte, dass die USA auf heimischem Boden unverwundbar ist, gab es bestimmt auch viele Umfragen. Und sie dürften voll Zukunftssorgen gewesen sein. Der grosse in den USA lebende polnische Dichter Adam Zagajewski schrieb jedoch ein Loblied, das über 20 Jahre später wie eine Rose aus dem Schutt ragt. Es ist der Versuch, sich durch die Sorgen und Schatten nicht die Gegenwart rauben zu lassen. Und umgekehrt: In der Gegewart zu leben, ohne die Sorgen und Schatten der Zeit und Zukunft einfach nicht wahrhaben zu wollen.
Es ist ein Gedicht, das mir auch einen neuen Zugang zu den Psalmen der Bibel verschafft. Das Loblied als Widerstandskraft in einer Welt, in der das Unlöbliche einen zu ersticken droht.
Versuch die verschandelte Welt zu loben.
Erinnere dich an die langen Tage im Juni,
an die wilden Erdbeeren, der Tropfen Roséwein.
Die Brennnesseln, die planmässig
die verlassene Siedlung der Vertriebenen überwachsen.
Du musst die verschandelte Welt loben.
Du hast die eleganten Yachten und Boote beobachtet;
eines hatte eine lange Reise vor sich,
während auf andere salziges Vergessen wartete.
Du hast gesehen, wie Flüchtlinge nirgendwohin gingen,
hast die Vollstrecker freudig singen hören.
Versuch die verschandelte Welt zu loben.
Erinnere dich an die Momente, als wir zusammen waren
in einem weissen Raum und der Vorhang flatterte.
Kehr in den Gedanken zu dem Konzert zurück, bei dem Musik ertklang.
Du hast im Herbst im Park Eicheln gesammelt
und Blätter wirbelten über die Narben der Erde.
Lobe die verschandelte Welt
und die graue Feder, die eine Drossel verlor,
und das sanfte Licht, das streut und verschwindet
und wieder zurückkehrt.
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