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Die Geschichte geht mir nach. Eine Gemeinschaft schafft sich ein Versammlungshaus. Und das Versammlungshaus schafft die Gemeinschaft. Wer bin ich unter den anderen? Was teile ich? Was trennt mich? (gr. synagoge bedeutet einfach Versammlungsort) Man versammelt sich. Es ist Sabbat. Im Hintergrund eine Frau, seit Jahren gekrümmt. Vielleicht wär sie heute im Rollstuhl. Vom eigenen Gewicht entlastet, könnte sie geraden Hauptes dabei sein und frei sehen. Wer aber ist sie in dieser Gemeinschaft? Wie wird sie gsehen - und wie hat sie sich in der langen Zeit in diesem Umfald selbst sehen gelernt? Als die Gekrümmte? Die Schiefe? Das Kollektiv schärft die Differenz und neigt dazu, die Differenz zur Etikette zu machen (die Rothaarige, der Schweigsame, die Katzenfrau, der Schwule) - oft so lange (18 Jahre), bis die Differenz zum Wesenmerkmal der Person geworden ist, obwohl es nur was Äusserliches oder Nebensächliches ist. Jesus holt sie in die Mitti und sagt, er möchte ihre Fesseln lösen. Er berühr

felsenfest

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Immer wieder ausgreifen. Das Glück und den Trost nicht in sich selbst suchen. Und nicht im Tun der Menschen. Im Buch der Natur lesen und sich selbst als Buchzeichen hineinlegen und befrieden lassen wie ein Herbstblatt, das zwischen den Seiten getrocknet und geglättet wird. Schöpfungstheologie praktisch. Als nach 9/11 in den USA mit den Flügen auch alle öffentlichen Gebäude und Pärke geschlossen wurden, meldete Secretary of Interior Gale Norton, das auf den Veterans Day alle Nationalparks geöffnet würden ,um den Amerikanern in den Nationalparks die Möglichkeit zu geben, Trost und Inspiration zu finden. (...) Tragödien wie diese machen Heilung notwendig, damit wir uns erholen und wieder aufrichten können. Wo könnte dieser Prozess besser beginnen als in unseren Parks, wo die Amerikaner Kraft (...) aus den herrlichen Natur schöpfen können.'  Und wenn die Geologin Marcia Bjornerud im Blick auf den Nationalpark Grand Canyon, in dem man durch die Felsschichten tief in die Vergangenheit sc

auszittern

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André Heller ist ein Hansdampf in vielen Gassen. Als Francis Charles Georges Jean André Heller-Hueart wurde er 1947 in Paris geboren, wohin seine Eltern im Krieg als Juden aus Wien geflohen waren. Als Schauspieler, Chansonnier, Veranstalter und Kulturveranstalter hat er seit den 80-er Jahren zahlreiche international beachtete Kunstaktionen und Festivals organisiert. Aktuell kuratiert er in der Elbphilharmonie Hamburg eine ,Woche des Staunens' mit Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Selbst Jude, griff er bereits vor 40 Jahren, im Libanonkrieg mit den Massakern in den palästinensischen  Flüchtlingslagern, die israelische Politik scharf an. Und musste sich deswegen 'Beihilfe zum Antisemitismus' vorwerfen lassen. Damals schrieb er: Die jahrtausendelange jüdische Leidensgeschichte wird von ihren eigenen Opfern verhöhnt, wenn diese daraus irgend etwas anderes lernen als Erbarmen, Toleranz, Menschenwürde und die Fähigkeit, beharrlich zu lieben. Dafür lohnt es zu

Kindernichtwunsch

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Ob wir Kinder haben wollten, war für uns keine Frage. Die Frage war höchstens, ob wir Kinder kriegen könnten, und ob wir in der Lage sein würden, gut für sie zu sorgen. Diese Selbstverständlichkeit hat damit zu tun, dass wir selber aus kinderreichen Familien stammten. Aber wohl nicht nur.  Wir haben es auch nie bedauert, dass sich uns diese Frage - Wollen wir Kinder? - nicht gestellt hat. Wir hatten das Glück, dass der Gedanke, dass es auch schlecht sein könnte, Kinder zu haben, gar nie aufkommen musste. Das ist heute bei vielen anders.  Das sagt etwas über die Welt aus, in der wir leben und in die unsere Kinder geboren werden. Die Zukunftsaussichten sind trüb wie schon lange nicht mehr. Zum Nachdenken über Kinder gehört nun auch der Gedanke, ob man in diese Welt ein Kind setzen kann. Die Entscheidung dagegen trägt nun auch das moralische Kleid eines besonderen Verantwortungsbewusstseins. Ebensoviel, so denke ich, sagt diese neue Aktualität der Kinderfrage aber auch etwas über die Zeit

bitte nicht stören

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Vor einer guten Woche hielt ich meine erste Radiopredigt. Ich wollte etwas über die Erschütterung sagen, die mich ergreift, wenn Schreckliches geschieht. Manche Nachrichten donnern in die eigene Beschaulichkeit wie ein Güterzug ins Cabrio auf dem offenen Bahnübergang. Und ich wollte etwas dazu sagen, wie gut es ist, dann einen Ort zu haben, wo man ,nach oben ausfliessen kann'.  In diesem Zusammenhang war mir oft das Bild des Malers Caspar David Friedrich 'Der Wanderer über dem Nebemeer' vor Augen. Jemand stützt sich auf einer Felsspitze auf seinen Stock und betrachtet das tosende Wetter weit unten, als stehe er darüber und es beträfe ihn nicht. Doch wer es betrachtet, weiss: Er kommt daher und wird wieder dahin zurück gehen müssen. Einen Hochsitz über den Dingen gibt es nicht, lediglich flüchtige Inseln. Der Maler feiert in diesem Jahr seinen 250. Geburtstag. In einer aktuellen Biografie stiess ich dabei auf folgende Notiz: Friedrich war ein geselliger Mensch. In seinem Hau

wortreich

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Die US-Autorin Joyce Carol Oates (*1938) schrieb bis heute 63 Romane, 47 Bände Erzählungen und zahllose Theaterstücke, Kinderbücher, Gedichte und Librettos. 1973 begann sie ein Tagebuch, das in 26 Jahren auf über 4000 Seiten anwuchs bis es vom E-Mail-Zeitalter abgelöst wurde.  Sie war bereits 18 Jahre alt, als sie noch eine Schwester kriegte. Sie hat am gleichen Tag Geburtstag und waren sich zum Verwechseln ähnlich. Joyce Carol suchte den Namen aus: Lynn Ann. Sie kam, als Joyce Carol gerade ins College auszog und sei zuhause sowas wie ihre ,Neubesetzung' gewesen. ,Ein Spiegelbild, einfach leicht verdreht,' schreibt sie. ,Eine Zwillingsschwester, 18 Jahre auseinander.' Doch im Gegensatz zur unermüdlich sprudelnden schwesterlichen Wortquelle, lernte Lynn Ann nie, einen einzigen ganzen Satz zu sagen. Joyce Carol erinnert sich nur an spitze Schreie, grunzende Laute und wie sie mit den Zähnen Buchseiten zerriss. Bald wurde bei ihr schwerer Autismus diagnostiziert. Der Vater sagt

Traumweihnacht

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In der Nacht geträumt: ,In diese Welt kann man unmöglich noch ein Kind setzen.' Bei Erwachen vernommen: ,For us a child is born.'   Verrückter Gott. Kann vom Unmöglichen nicht lassen.   Paradoxe Intervention Weihnacht.  Welt, reib dir die Augen!   Philipp Roth    philipp.roth@kgbb.ch philipp.roth@erk-bs.ch